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Die Anerkennung der Radrowdys

Ulrich Weiß

Die Anerkennung ist ein janusköpfiges Geschehen. Wir erzeugen sie, indem wir die gesellschaftlichen Erwartungen verstehen und uns so verhalten, dass die Gesellschaft uns zunickt, wenn wir einen sinnvollen Beitrag geleistet haben. Andererseits erzeugt die Anerkennung uns selbst. Wir werden als jemand und etwas erkannt, wieder-erkannt und dadurch anerkannt und schlüpfen so in die sozialen Rollen, die uns zugewiesen werden. Wir werden als Jemand angesprochen und reagieren als dieser, genau dieser Jemand. Wer z.B. in der Schulklasse als Klassenclown erkannt und wieder-erkannt, also anerkannt wurde, wird wissen, dass es fast unmöglich ist, innerhalb dieser Klasse plötzlich als fokussierter, aufmerksamer Schüler aufzutreten, weil selbst das angepasste Handeln zunächst durch das Umfeld als Provokation und Teil der Rolle des Clowns wiedererkannt wird.
Auch im Straßenverkehr werden Menschen auf Fährrädern als Rowdys angesprochen und siehe da: Sie werden zu Rowdys. Wie das genau läuft?

Unser Zusammenleben ist von Regeln durchzogen und wir können grob sagen, je folgenreicher dieses oder jenes Verhalten in einem Lebensbereich ist, desto verbindlicher ist das Regelwerk, das sich dazu entwickelt. Am Straßenverkehr lässt sich das ganz gut sehen: Autos und Reparaturen sind teuer, die menschliche Gesundheit noch teurer (wertvoller sowieso, aber eben auch teurer im Sinne von Kosten von Behandlungen). Da Autos und menschliche Gesundheit im Straßenverkehr vor allem durch Autos (und LKW) täglich bedroht sind, ist für nahezu jede Auto-Bewegung im Straßenverkehr das richtige Verhalten eindeutig festgelegt. Dadurch ist auch klar, wenn jemand einen Fehler gemacht hat und die Kosten tragen muss. Das bedeutet für Autolenker*innen gleichzeitig, dass sie zu jeder Zeit, sofern sie sich an die Regeln halten, eine hohe Sicherheit genießen, nicht verletzt und nicht belangt zu werden.

Für den Radrowdy beginnt sein geschmähtes Dasein also mit seiner Harmlosigkeit. Im Vergleich zum Autoverkehr sind die Folgen von Fehlverhalten auf dem Fahrrad überschaubar und die Schadenshöhen durch Fahrradunfälle verschwinden geradezu im Vergleich mit den Schadenshöhen von Autounfällen. Es rechnet sich volkswirtschaftlich einfach nicht, bei der Bestimmung des Rechtsraumes „Fahrradverkehr“ die gleiche Lückenlosigkeit anzustreben wie im Rechtsraum „Autoverkehr“ d.h. das Regelwerk inkl. der Umsetzung (z.B. in Form von Kontrollen, Registrierung u.ä.) ist für den Radverkehr vergleichsweise schlampig geknüpft.

Man stelle sich vor: Man fährt mit dem Auto auf einer Einbahnstraße, die plötzlich eine Sackgasse wird. Eine unlösbare Situation, die nur durch einen Regelverstoß – fahren gegen die Einbahnstraße – zu lösen ist oder durch einen physikalischen Trick, das Auto aufzulösen, schrumpfen und wegtragen oder so.
Klingt absurd, sich auflösen, mit dem Rad ist das aber die tägliche Normalität . Denn genau das wird hier regelmäßig gefordert: Sich selbst aufzulösen bzw. auszusetzen. Es gibt dafür sogar ein Schild: „Radfahrer bitte absteigen“. Das Schild ist quasi das blechgewordene Eingeständnis der Verkehrsverwaltung, dass für den Radverkehr keine andere Lösung gefunden wurde, als dass der Radfahrer aufhören soll, Radfahrer zu sein, um Fußgänger zu werden.

Während also die Eindeutigkeit des Autoverkehrs auf jedem Straßenmeter aufrecht erhalten wird, um das Verkehrschaos zu verhindern, gibt es für den Radverkehr diese Eindeutigkeit nicht, der Umgang mit dem Chaos wird stattdessen an die Radelnden delegiert – und zwar als existenzielles Dilemma: Steig ab und hör auf (radelnd) zu sein, oder fahr weiter – als Rowdy!
Durch die Uneindeutigkeit der Fahrradregeln werden also Menschen auf Rädern täglich tausendfach vor die Wahl gestellt: Harmlos zu sein und abzusteigen oder weiterzufahren und als Rowdy erkannt und wieder-erkannt, also anerkannt zu werden. Radfahrer*innen treffen in uneindeutigen Situationen dann Entscheidungen, die Autofahrer*innen nicht nachvollziehen können, die überraschend sind oder als gefährlich wahrgenommen werden weil – noch einmal – es die eine richtige Entscheidung mangels Verkehrsführung nicht gibt.

Was sich wie spitzfindige Wortklauberei liest, hat in Wirklichkeit viel mit dem zu tun, was die Sozialphilosophie Anerkennungskampf nennt. Anerkennungskämpfe setzen häufig dann ein, wenn die geltende Rechtslage nicht zum Leben der Menschen passt und sie beginnen, die Rechtslage in Zweifel zu ziehen. Bezogen auf das Radfahren fragen Radfahrer*innen sich womöglich erst „Warum werde ich angebrüllt oder angehupt?“, „Warum gibt es hier keinen Weg für mich?“, „Warum wird der Verkehr so geführt, dass ich noch mehr Abgase einatmen muss?“, „Warum gibt es eine Nord-Süd-Fahrt für Autos, aber nicht für den Radverkehr?“, „Warum muss ich mich an der Ampel darauf verlassen, dass der rechtsabbiegende LKW mich nicht überfährt?“. Im nächsten Schritt des Anerkennungskampfes beginnen Radfahrer*innen dann, ihre Position im Straßenverkehr auch physisch zu behaupten.
Es kommt zu vielen kleinen, meist harmlosen Irritationen im Straßenverkehr, dazu, dass Radfahrer*innen „kurz mal“ gegen eine Einbahnstraße fahren, um einen Umweg zu vermeiden oder „kurz mal“ über den Bürgersteig, weil der Radweg unvermittelt endet. Dass einige Radfahrer*innen den Anerkennungskampf in anarchische führen, ist ein Teil dieses Anerkennungskampfes, der natürlich auch unsympathische oder gesundheitsgefährdende Formen annehmen kann.

Dies ist keine Entschuldigung für Rechtsbrüche. Aber wie beschrieben: Wenn die Gesetze nicht zum Leben der Menschen passen, dann wird in der Regel nicht das Leben geändert, sondern die Bedeutung von Gesetzen ins Verhältnis gesetzt zur Wahrscheinlichkeit, bestraft zu werden.
Und tatsächlich tut sich ja auch was. Während jahrzehntelang das sportliche Auto auf seine Insassen abstrahlte, hat der Ruf der grenzenlosen Automobilität in letzter Zeit doch ziemlich gelitten.

Das Wort Radrowdys gibt es folgerichtig nicht in erster Linie, weil grundaggressive Radmacker marodierend durch die Straßen fahren und freie Autobürger an ihrem Grundrecht auf freie Fahrt hindern. „Radrowdy“ oder auch „Kampfradler“ ist eher das Bild, das bei Menschen entsteht, die sich in ihrer Autowelt eingerichtet haben von Menschen, die versuchen, sich auf dem Rad in dieser Welt zu bewegen, die gerade nicht für sie gemacht ist.

Und die Wörter – Radrowdy und Kampfradler – stehen für den rhetorischen Trick, in einer Situation der steigenden Anerkennung für emissionsfreie Mobilität die Anerkennungsgewinne von Radfahrer*innen zu schmälern bzw. Zugeständnisse zu delegitimieren. „Die benehmen sich wie die Schweine und als Dank bekommen sie eine Fahrradstraße! Na dann gute Nacht Deutschland und fuck you Greta!“
Radrowdys gibt es nicht , sie werden gemacht durch eine Verkehrspolitik, die dem Fahrrad keine eindeutige Position im Straßenverkehr zuweist, sondern die in erster Linie auf einen reibungslosen Autoverkehr fokussiert ist, in dem sich Radfahrer*innen dann schon irgendwie arrangieren werden.

Radfahrer*innen haben keinen eindeutigen Platz im Straßengefüge, sie müssen ihn sich mit jedem Meter neu suchen und bisweilen erkämpfen. Das manche dabei rowdyhaft und kämpferisch wirken ist einer Verkehrspolitik geschuldet, die bislang keine Balance zwischen den unterschiedlichen Interessen im Straßenverkehr gefunden hat.